Kommentar

Game and Earnest (1987/89)
16 Schachbrett-Module für Computerinstrumente, komponiert für das Konzert für Schachspieler, computergesteuerte Sampler & Synthesizer, Konzertflügel, akustische & elektrische Gitarren, Plattenspieler, Tapes & Rückkopplung, Alt- & Baritonsaxophon und Klangregisseur.

Die Debatte um Ordnung und Zufall durchzieht das gesamte abendländische Denken. Gibt es ein geordnet strukturiertes, sich in der Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung entwickelndes Weltgeschehen? Geschehen Dinge mit naturwissenschaftlicher Notwendigkeit in einer zwingenden kosmischen Ordnung? Sind wir Menschen gar nur Marionetten in dieser Ordnung? "Ducunt volentem fata, nolentem trahunt" (den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen schleppt es mit)? Werden unsere Handlungen von vorhergehenden Ursachen angestoßen wie die Bewegung einer Billardkugel durch den Stoß des Queue, oder beruhen sie auf freien Willensentscheidungen? Steht die Zukunft schon fest und ist prinzipiell vorhersagbar, oder ist sie prinzipiell offen und in jedem Augenblick veränderbar?

Was hat das mit Musik zu tun? Die grundlegende Frage nach Freiheit, Ordnung und Zufall hat in der Musik des 20. Jahrhunderts mehr Aktualität erfahren als je zuvor. Hatte man in früheren Jahrhunderten mit dem Charakter musikalischer Sätze, mit Problemen der Nach-ahmung oder mit harmonischen Problemen gerungen, so steht im 20. Jahrhundert der Aspekt der kompositorischen Freiheit im Vordergrund aller avantgardistischen Überlegun-gen. Wie frei ist der Komponist, wie frei ist der Interpret, welche Rolle spielt der Zufall - und gibt es überhaupt noch so etwas wie ein Werk?

Der Zufall findet auf viele Arten den Weg in die Musik. Der Komponist gibt entweder schon beim Komponieren dem Zufall Raum, indem er z.B. würfelt oder einen Zufallsgenerator ein-setzt, oder aber er überlässt (ganz demokratisch) Teile des Stücks dem Belieben der Inter-preten - immer gibt er dabei einen Teil seiner theoretischen Allmacht über Komposition und Interpreten preis. "Game and Earnest" kombiniert durch eine brillante Idee strengste Ord-nung und Zufall miteinander und enthebt die Musik in einer überraschenden dialektischen Wendung gleichzeitig allen Ordnungs- und Zufallsüberlegungen.

Mittel dazu ist das Schachspiel. Einerseits bietet es durch seine relativ wenigen, schnell er-lernbaren Regeln ein Musterbeispiel für ein klar geordnetes System, andererseits kann aber selbst in diesem scheinbar so einfachen Spiel eine derartige Menge an Kombinationen ent-stehen, dass sich der Spielverlauf kaum vorhersagen lässt. Durch wenige Regeln entsteht in diesem Spiel aus einer einfachen, strengen Ordnung eine komplett offene Zukunft.

In "Game and Earnest" sitzen zwei Schachspieler auf der Bühne und betreiben ihr königli-ches Spiel. Allerdings auf einem präparierten Schachbrett, dessen 64 Felder wie Steuerta-sten funktionieren. Wird eine Schachfigur auf ein Feld des Schachbretts gesetzt, wird von der Elektronik ein bestimmtes Stück eigens für dieses Feld komponierter Musik - ein soge-nanntes "Modul" - gespielt. Vier Komponisten haben je 16 solcher Module komponiert, die über das Schachbrett verteilt wurden. Wird ein neuer Zug gemacht, eine neues Feld betre-ten, können auch die Klangfarben des nächsten Moduls durch das vorhergehende beein-flusst werden. Das Schachspiel wird auf einmal zu einem musikalischen Glücksspiel.

Ein Schachspiel beginnt meist schnell und wird dann nach einiger Zeit langsamer, die Denk-pausen zwischen den einzelnen Zügen werden länger. Das schnellere Anfangstempo führt dazu, dass anfänglich immer dichtere Akkorde entstehen, indem die Module immer wieder vorzeitig abgebrochen werden und bereits angespielte Klänge "hängenbleiben", während mit der Zeit auch vollständige Module hörbar werden oder sogar Pausen eintreten können. Auch ein weiterer Parameter des Stückes, seine Dauer, ist bei diesem Verfahren äußerst unbe-stimmt. Das Stück hört erst auf, wenn einer der Spieler matt gesetzt ist oder aufgibt.

Zu dieser durch das Schachspiel gelenkten elektronischen Musik treten vier Live-Musiker hinzu (zum Teil die Komponisten selbst), die jeder nach einem eigenen Konzept improvisie-ren, über das sie sich vorher mit den anderen Musikern nur vage verständigt haben - das reicht hin bis zu richtig Alter Musik. Natürlich tritt im Verlauf des Spiels, je langsamer die Spielzüge werden, die Improvisation der Musiker immer mehr in den Hör-Vordergrund.

Man könnte jetzt glauben, bei all dem müsse zwangsläufig (!) so etwas wie Beliebigkeit her-auskommen, Chaos pur. Doch das schier Unglaubliche geschieht: es wächst ein klanglicher Organismus, der frei jeder erkennbaren Beliebigkeit ist. Wüsste man nicht um den Aufbau von "Game and Earnest", dann hielte man es für ein teilweise durchkomponiertes, in man-chen Passagen improvisiertes Werk und niemals für ein Musikstück, das aus einer derarti-gen Vielzahl voneinander weitgehend unabhängiger Komponenten entstanden ist. Im Chaos der zahllosen Kombinationsmöglichkeiten liegt eine tiefere Ordnung, auch wenn es eine Ordnung ist, die sich so kaum jemals wiederholen wird oder gar vorhersagen lässt. Aus dem Pluralismus des technischen Aufbaus, der Kompositionsmethoden und der Individualität der Musiker entsteht ein vielschichtiges Stück, das durchaus witzige Passagen hat, wenn etwa ein Flipper quäkt oder man sich an den näselnden Sound der Musik zu frühen Science Fic-tion-Streifen à la "Raumpatrouille Orion" erinnert fühlt. Manches der Module wiederum ist streng seriell komponiert und wird dann - durchaus wonnevoll - in das unvorhersehbare Chaos geworfen. Ganz so ernst, wie es sich auf dem Papier anhört, ist das Ganze trotz des technischen und theoretischen Aufwandes hörbar nicht gedacht.

Man mag rätseln: greifen hier verschiedene Ordnungen ineinander, die unserer Welt oder zumindest dem menschlichen Geist einfach innewohnen? Hat Einstein Recht damit, dass Gott nicht würfele, dass es keinen Zufall in der Welt, auch nicht im Mikrokosmos gebe? Gibt es im Hintergrund des musikalischen Geschehens einen geheimen Strippenzieher, und sei es die Struktur der musikalischen Sprache selbst, der die vielen Faktoren des Werkes har-monisiert? Gibt es keinen Unterschied zwischen Ordnung und Unordnung, trägt vielleicht pu-re Freiheit immer schon eine gewisse Harmonie in sich? Ist Zufall nur eine andere Art musi-kalischer Ordnung? Oder sind vielleicht die eingangs gestellten (doch recht metaphysischen) Fragen ganz einfach falsch oder zumindest nicht auf die Musik anwendbar?

Dieses Projekt wirft einige grundlegende Fragen auf, die bei Licht betrachtet den Welträtseln nicht allzu fern liegen...
Harald Borges im Booklet zur CD "Game and Earnest" (oaksmus omH02)

 

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