Kommentar

KfVumS – Komposition für Violine und modulare Synthesizer
(2010-11)

Der Siegeszug der computerbasierten elektronischen Musik hat tief greifend die tradierten Begriffe und Rollenzuweisungen in der Musikpraxis verändert:
- Inwieweit ist der Komponist auch Interpret, wenn er Klang und Struktur nicht nur imaginiert und fixiert, sondern selbst konkret und zunehmend auch in Echtzeit gestaltet?
- Ist der Instrumentalist noch Interpret, wenn er immer öfter vom Komponisten in die Erstellung des musikalischen Materials einbezogen wird und formale Entscheidungen zu treffen hat?
- Welche Auswirkungen hat es andererseits auf die Bühnenpräsenz, wenn das Zentrum des musikalischen Geschehens weg vom Instrumentalisten, hin zur unsichtbaren, körperlosen Synthesesoftware verlagert wird?
- Gehört nicht der gesamte elektronische Transformationsprozess auf die Bühne, ist nicht der „Herr der Regler“ auch Performer?
- Bis zu welchem Grad haben hier rein pragmatische Erfordernisse Musikpraxis und Ästhetik unreflektiert beeinflusst?

Es lohnt sich immer wieder, auf dem Gebiet des technisch Machbaren bewusst einen Schritt zurückzugehen - sozusagen um aus der Vergangenheit einen Blick auf das Heute zu werfen. Im Windschatten der digitalen Revolution hat sich die spannungsgesteuerte analoge Synthese weiterentwickelt. Ihr klangliches Potential ist dem der digitalen Synthese zwar theoretisch unterlegen, doch trotzdem praktisch unerschöpflich - noch dazu sind ihre Nuancen dem Musiker wesentlich leichter zugänglich und in der Bühnensituation viel detaillierter zu verändern und besser nachzuvollziehen: Ein analoges Modularsystem ist ein bühnentaugliches Instrument. Dies eröffnet vor dem Hintergrund oben beschriebener Fragenstellung Räume, die es auszunutzen gilt:
- Der Komponist kann den Synthesizer ähnlich wie ein akustisches Instrument „erlernen“ und ausgewählte Parameter entsprechend kompositorisch gestalten. Er kann mithin „klassisch“ mit Papier und Bleistift komponieren.
- Die Interpreten haben Freiheit bezüglich derjeniger Parameter, die der Komponist offen lässt.
- Die Erforschung des Klangmaterials kann problemlos von Komponist, Instrumentalist und Musikelektroniker gemeinsam erfolgen: Änderungen der Verkabelung eines Modularsystems erfolgen in Sekundenschnelle und sind auch auf der Bühne spontan durchführbar. In der Welt der Software ist das wesentlich komplizierter.
- Das Zusammenwirken zwischen akustischem Instrument und Synthesizer findet als erfahrbare kammermusikalische Interaktion auf der Bühne statt.

Das Herz des in der KfVumS auf die Bühne gebrachten Hybriden aus Mensch und Maschine ist ein Step Sequencer. Dessen Basisfunktion ist die Repetition von Tonhöhen oder anderen Parametern, wie sie vor 25 Jahren Stil prägend für Techno wurde. Wird ein Step Sequencer in ein komplexes Modularsystem eingebunden, erweitern sich seine Möglichkeiten immens: Tempo, Schrittreihenfolge und Abrufwahrscheinlichkeit jedes Schrittes einer Sequenz lassen sich vielfältig beeinflussen, womit sich ihre repetitive Grundstruktur öffnet. Auf der anderen Seite lässt sich ein Step Sequencer auch als manuell abrufbarer Speicher für statische Klangeinstellungen verwenden.

Die Strukturierung der Synthesizer-Module konzentriert sich auf die Verarbeitung des Signals der Violine. VCO, 2 Filter, LFO, ein Hüllkurven-Generator sowie ein Frequenzwandler werden durch den Step Sequencer und manuell gesteuert. Die Violine als Quellsignal der Klangsynthese führt zu teils deutlich von den „üblichen“ Synthesizer-Klängen differierenden Resultaten. Einem Vocoder wird ein weiteres Signal zugeführt: aktuelle Politikerreden und Propaganda, die sich auf die Planung, Durchführung und Rechtfertigung von Kriegen beziehen. Diese Zuspiele in der KfVumS sind austauschbar, sollen bei jeder Aufführung aktualisiert werden. Leider ist nicht anzunehmen, dass in Zukunft eine Aufführung in Ermangelung aktueller Kriegshetze nicht „werkgetreu“ stattfinden können wird.

Die ersten formalen Überlegungen zur Komposition fielen mit dem Bekanntwerden der sogenannten „Kundus-Affäre“, der völkerrechtswidrigen Ermordung von mindestens 137 afghanischen Zivilisten durch deutsche Soldaten unter dem Kommando des Oberst Klein im September 2009, zusammen.

Die strukturelle Basis der Tonhöhenorganisation sowie Rhythmik und Tempi der KfVumS wurden aus der formalen Analyse eines der eindrücklichsten Werke der Buchkunst gewonnen: „Le photographe“ von Emmanuel Guibert und Didier Lefèvre, das in einer Mischform aus Fotodokumentation und Comic-Strip die Geschichte der Reise des Fotografen Lefèvre mit Médecins sans frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) durch das kriegsgeschüttelte Afghanistan von 1986 erzählt.
Die MSF stellten ihre Arbeit in Afghanistan ein, nachdem dort 2004 fünf ihrer Mitarbeiter unter bis heute nicht geklärten Umständen ermordet wurden. Seit Dezember 2009 setzen MSF ihre Arbeit in Afghanistan wieder fort – nun unter massiver Bedrängung durch NATO-Generalsekretär Rasmussen und den deutschen „Entwicklungshilfeminister“ Niebel zur „Zusammenarbeit“, d.h. Aufgabe der politischen Unabhängigkeit und die Unterordnung unter NATO-konforme Propagandazwecke. Die MSF bleiben nach wie vor standhaft und konnten im August 2011 endlich eine unabhängige chirurgische Klinik in Kundus eröffnen.

Als deutscher Staatsbürger widme ich die Komposition dem Gedenken an die unzähligen afghanischen Zivilisten, die durch deutsche Soldaten seit 2002 ermordet wurden und weiter ermordet werden – im grundgesetzwidrigen Auftrag einer Regierung, die sich ausschließlich den Profitinteressen großer Konzerne verpflichtet fühlt. Zu den Kriegseinsätzen der Bundeswehr im Mittelmeer, am Horn von Afrika, in Afghanistan, tritt die trotz rhetorischen Ableugnens immer offenere Unterstützung und Beteiligung an den von USA und NATO geführten Rohstoffkriegen in Irak, Libyen, demnächst Syrien und Iran.

Trotzdem es sich bei den BTZM 2011 um die Uraufführung der KfVumS handelt, hat die Beziehung zu Bludenz bereits eine gewisse Geschichte, denn eigentlich war diese Aufführung für den 2010er Jahrgang vorgesehen, konnte aber wegen einer ärgerlichen technischen Panne nicht stattfinden.
Dank der großartigen Zusammenarbeit, für die ich Thomas Rehnert und Ekkehard Windrich unendlich dankbar bin, konnte sich das Stück in diesem Jahr erheblich weiterentwickeln und wird Ihnen nun in seiner endgültigen Form zu Gehör gebracht.

Dietrich Eichmann im Programmkatalog der BTZM, November 2011

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