Kommentar

"Prayer to the Unknown Gods of the People Without Rights" (2002/05)
für Ensemble mit improvisierendem Solisten
für Peter Brötzmann.
Kl, Bkl, Altsax, Baritonsax, Fag/Kfag, 2 Trp, 2 Pos, 4 Schlzg, Klavier, 2 Vln, Vla, Vcl, Kb, 30’

Ein vollständig durchkomponiertes Ensemblestück wird mit einem Solisten konfrontiert, der seinen Part komplett improvisiert. Das wird besonders spannend, wenn der Solist eine musikalische Persönlichkeit ist wie Peter Brötzmann, einer der konsequentesten und stärksten Ausdrucksmusiker, die es in unserer Epoche gibt.
Eine Komposition, die einen solchen Solisten „featured", verlangte von mir einen Ensemblepart, der nicht vor Dichte und teilweise extremen Anforderungen zurückschreckt, um Brötzmann ein ebenso starkes Gewicht entgegenzusetzen - in meiner Sprache, ohne Brötzmanns Sprache in irgendeiner Weise nachzuahmen.
Entfernt mag die Arbeitsweise mit Duke Ellingtons Art, Stücke und Arrangements speziell für seine Solisten zu komponieren, verwandt sein - obwohl es in Prayer to the Unknown Gods... kein Thema gibt, über das oder mit dem der Solist improvisiert. Die Komposition konfrontiert den Solisten mit Material und Strukturen, die er in seine Improvisation aufnehmen kann oder auch nicht, die seine spezielle Spielweise in ein vielleicht unerwartet anderes Licht stellen. Nirgends wird festgelegt, ob und wie Brötzmann zu reagieren, zu spielen hätte. Das Stück will ihm einen musikalischen Raum geben, ihn manchmal auch provozieren und so den Versuch unternehmen, tatsächlich einen Dialog zwischen prädeterminierter und instantaner Musik zu erreichen.
Ginge man davon aus, daß das Stück mehrere Aufführungen erleben wird, könnte man eine Reifung, eine Veränderung auch der Interpretation der komponierten Ensemblemusik vermuten. Für die Ensemblespieler mag es ebenso wie für den Solisten zum Abenteuer geraten, als Interpreten einer relativ komplexen Partitur, die sie im Laufe der Arbeit immer besser kennenlernen und so ihre Stimmen mit Persönlichkeit füllen können, immer mit der Präsenz des bei jeder Aufführung wieder unbekannten Parts des Solisten konfrontiert zu werden.
People Without Rights ist der Titel eines Buches von Noam Chomsky über die von Deutschland und den USA geführte NATO-Invasion im Kosovo und den indonesischen Staats-Terror und Völkermord in Ost-Timor, der von den USA seit 1975 unterstützt und finanziert wird; beides wirkungsvoller Ausdruck der „edelmütigen Bestrebungen“ und „humanitären Interventionen“, wie die gewaltsame Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen und des Gehorsams gegenüber der „Weltpolizei“ seit Ende des 20. Jahrhunderts genannt werden.
People Without Rights sind auch Kubaner, nahezu alle Südamerikaner und Schwarzafrikaner, Kurden, Afghanis, Palästinenser, Iraker, Perser etc. – die „demokratischen“ Westmächte haben dem Großteil der Weltbevölkerung praktisch alle Grundrechte abgesprochen, und die Liste der direkt bedrohten Kulturen wächst weiter, während weltweit eine Monokultur erzwungen wird.

Musik, künstlerische Betätigung überhaupt, muß in solcher Situation als ein Anrufen von Was-auch-immer außerhalb von Ideologie und Profitgier gelten, und sei es der humanistische, aufgeklärte Geist, der sich in Irrationales begeben muß, um seine Unabhängigkeit zu wahren und zu erneuern.
Prayer to the Unknown Gods of the People Without Rights ist das dritte Ensemblestück einer Trilogie, die unter dem direkten Einfluß der politischen Situation der letzten Dekade komponiert wurde. Der ersten beiden Stücke sind das Klavierkonzert Entre deux guerres (1996-98) und Verdichtung (2001-02), geschrieben für das Ensemble Modern im Auftrag des Berliner Festivals MaerzMusik 2002.
Die erste Version von Prayer... wurde 2002 vom Wuppertaler Festival Die 3.Art in Auftrag gegeben und von Peter Brötzmann und dem Kammerorchester der Musikhochschule Wuppertal unter der Leitung von Werner Dickel uraufgeführt. Die überarbeitete Fassung von 2005 entstand im Auftrag des Ensemble Modern.
Dietrich Eichmann, November 2005

 

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