Kommentar
mirlitonnades (1986-90)
mit einigen Gedichten von Samuel Beckett
2 Mezzosoprane, Live-electronics & großes Ensemble: Es-kl, Bkl/Kbkl, Altsax, Tenorsax, 3 Pos, E-Gitarre, E-Bass, Akk, Klav/Cel, 3 Schlzg, Vln, Vla, 2 Vcl, 2 Kb, 23’30
Diese Gedichte
sind nicht am Wort entlang vertonbar. Sie haben eine eigene, so starke Präsenz
und Intensität, daß sich nichts durch vermittelnde Musik dazuinterpretieren
ließe. Es war aber möglich, Musik von ebenso starker, eigenständiger
organischer Präsenz auf der Basis der Texte entstehen zu lassen. Also
dachte ich über Beckett nach, "verschlang" die gesammelten
Werke, die glücklicherweise gerade erschwinglich herauskamen, en bloc
und beschloß, die Stadtpläne von Dublin, wo Beckett geboren wurde,
und von Paris, wo er lebte, auf irgendeine Art der Musik zugrunde zu legen.
Nun ist Beckett inzwischen gestorben – das Reden über Tote überlasse
ich lieber den Wissenschaftlern.
1986 begann ich, Graphiken herzustellen, in denen nämliche Stadtpläne
in Systeme von verschiedenen Punkten und Abständen übertragen wurden.
Veränderungen in der Straßen-, Weg- etc. Struktur führen zu
Punkten, an denen der musikalische Verlauf oder der einzelne Klang sich ändern.
Und doch bleibt es ein geschlossener Ablauf; die Beckettschen Figuren bewegen
sich in vorgezeichneten Bahnen, sie sind unfähig, sich selbst zu bewegen,
sie werden bewegt in der ironischen Freiheit des Autors. Becketts Texte sind
keine Aussagen, sondern Zustände, die Zustände bleiben und trotzdem
– deshalb anarchisch – völlig frei sind.
Zunächst entstand Ende 1986 ausgehend von diesem Stadtplanmaterial der
Zyklus "Vergessen an Archem (Hier) – I never walked the likely Finglas
Ratabhachta" – ohne Texte; dann führte die Entwicklung dieser Textverwendung
und –aussetzung über Gesamtanlageskizzen zu einem variablen Einsetzen
einzelner Zeilen oder Silben aus den Gedichten, ebenso wie einzelner Orchesterstimmen
oder ausinstrumentierter Parts, die eventuell für jede Aufführung
anders zusammengestellt werden sollten – bis einige zufällig ausgewählte
Verläufe fixiert wurden, um genau ausgearbeitet zu werden. In verschiedenen
imaginären Räumen vollziehen sich eigenständige Gedanken, entstehend
durch unabsehbare Struktur- und Nichtstrukturausbreitung. Alle 36 Gedichte
haben während der Komposition die Möglichkeit, ständig gleichzeitig
präsent zu sein. Die Komposition selektiert gegenstandslos. So schließen
sich mehrere Musiker zu immer anderen Gruppierungen zusammen, und sie werden
Teilhaber an einer in diesen imaginären Räumen sich einstellenden
Klangwerdung. Diese Teilhaberschaft ist niemals absolut – es gibt unter den
Klängen keine Hierarchie –, da kein Instrument, kein Klang, keine Struktur,
die einmal entsteht, verantwortlich ist für das vorher, simultan oder
nachher Geschehende, gar andere Möglichkeiten der Gestaltwerdung ausschließt
oder überragt. In voneinander entfernten Zeiten stehende Verläufe
wurden nach den Ergebnissen der Stadtplan-"Ausdeutung" überlagert
und brachten wieder neue Pulse hervor. Hieraus wurde zunächst eine Partitur
in immer zwei bis drei simultanen verschiedenen Tempi – mit einer vagen Zuordnung
von Textstellen, ohne daß diese auskomponiert wurden. Verläufe
werden zu Zuständen, die sich organisch und ständig verändern,
immer auf der Suche, ohne einem Ziel nachzujagen. Diese Grundstruktur, die
eigentlich nur ein Beispiel für die Möglichkeiten des "anarchischen
Systems" sein sollte, ist bis in die 1990 fertiggestellte Partitur von
"mirlitonnades" beibehalten worden. Im immer weiter ins Detail gehenden
Prozeß wurde die zunächst variable Anlage zu einer durchorganisierten,
exakt realisierbaren Partitur, in der letztendlich zwölf der Gedichte
vorkommen.
Musik entsteht aus der Folge unfixierten Denkens in unterschiedlichen Richtungen,
aus Hin-Hören, durch Aufgeben der Vorstellung von Richtung als Abfolge
und in der Unmöglichkeit von Wiederholung als Konsequenz der Formulierung
eines Gedankens, welcher alle möglichen Gedanken gleichzeitig enthält
und negiert. Die "mirlitonnades" führen das ironisierte negative
Sein der Beckett-Texte in eine staunende, pluralistische Wahrnehmungshaltung,
indem durch die Musikalisierung die Dualität der dialektischen Polarisierung
konzessionslos aufgehoben wird. Was sich in erwartungsloser Wahrnehmung von
momenthaft Existentem an sich einstellt, kann große Intensität
haben. Es gibt vielleicht einiges Spannende zu erleben. Das Ganze ist ein
Spiel. Ein Spiel, das ständig wandelbar verläuft, immer die gleichen
Ergebnisse hat, nie vergleichbare Ergebnisse hervorbringt, niemals ein Ziel
verfolgt.
1aus der Gedichtsammlung
"mirlitonnades" (deutsch "Flötentöne"), zuerst
veröffentlicht 1978
Dezember 1990